strasse mondDas Loch im Gehirn 

von Margarete Schebesch

 

Nein, er wusste selbst nicht, was er eigentlich wollte.

Es gab manchmal Momente, da war er zu allem bereit. Dann war es ihm egal, dass es verrückt war, woran er dachte. Es war der Tod. Er hatte nie Angst vor dem Tod haben wollen. Er dachte manchmal daran und fragte sich, wie es wohl sein würde, einfach von der Brücke hinunterzufahren. In die Schlucht, die ihn bestimmt töten würde.

Er trat auf das Gaspedal, und der Wagen wurde schneller. Während er dahinflog, sah er durch die Sträucher auf dem Mittelstreifen die Scheinwerfer der Wagen auf der anderen Seite der Autobahn. Es waren Geisterlichter in der Nacht. Der Mond schien ihm durch die Windschutzscheibe genau ins Gesicht. Er dachte daran, einfach den Mond anzuschauen. Ihn anzustarren, sich in ihn zu versenken. Auf vielen Bildern hatte er gesehen, dass der Mond ganz und gar von Kratern zerbeult war, wie ein pockennarbiges Gesicht. Aber hier konnte er nur ein paar Flecken auf der hellen, gelben Scheibe wahrnehmen. Sie war schmutzig und unregelmäßig.

Vor ihm tauchten ein paar rote Rücklichter auf. Wie gut passten sie zu dem Gelb, dem fahlen Gelb des Mondes! Er schaute auf die Uhr. Schon seit zwei Stunden war er unterwegs.

Es war immer etwas da, was einen dazu drängte, Schluss zu machen. Man musste sich nur diesen stillen Gründen öffnen, die der Antrieb dazu waren. Man musste darauf hören, richtig zuhören musste man, so wie man Radio hört. Manchmal war es nur die Neugier. Man wollte einfach wissen, wie es sein würde.

Eine Wolke schob sich vor den Mond und nahm das gelbe Licht vom Himmel. Die Leute sagten immer, das Licht sei silbern. In allen Büchern stand es so. Wieso hatte noch niemand gesehen, dass das Licht gelb war und nicht weiß? Es hieß auch immer, das Licht sei kalt. Zu dieser Jahreszeit war es aber warm, angenehm warm. Wärmend.

Als eine Wolke den Mond verdeckte, wurde es dunkel und kalt, und er wurde müde. Ein paar Sterne waren noch da, er konnte sie durch die Windschutzscheibe erkennen. Es gab also noch Löcher in den Wolken, und vielleicht kam der Mond gleich wieder ...

Er kam. Gelb, schwarz und verzehrend.

Was täten die Menschen ohne das Licht in der Nacht?, fragte er sich langsam und buchstabierte jedes Wort im Kopf, für jedes in den Sträuchern aufblitzende Scheinwerferpaar einen Buchstaben. Die Buchstaben wurden zu Sekunden, zu den Schlägen einer lautlosen Uhr in seinem Kopf, und mit jedem Schlag verstrich ein Stück Zeit, es wurde einfach weggewischt. Immer zwei Lichter. Hell, beißend hell, und immer wieder schnitten sie ein neues Stück der Dunkelheit heraus.

Er begann, diese Lichter zu hassen, und je mehr davon auftauchten, desto größer, stärker wurde sein Hass.

Wie kann man denn Scheinwerfer hassen?, dachte er, und sein Gehirn sträubte sich dagegen, nach einer Antwort zu suchen. Seine Hände verkrampften sich auf dem Lenkrad, und sein Fuß erstarrte auf dem Gaspedal.

Er musste sie alle sehen, alle Lichter, die da kamen!

Er fuhr schneller, und die Scheinwerfer rasten vorbei. Jetzt gab es viel mehr als vorher, und sie kamen von überall. Sie waren vor ihm und im Rückspiegel, an den Seiten – und sogar über ihm glänzte ein schmutziger, gelber, greller Scheinwerfer! Alle waren da, jeder eine Sekunde, und jeder wollte sein Stück von der Zeit haben. Er konnte fühlen, wie die Zeit kleiner wurde, dünner, enger, weniger. Weniger! Er hatte kaum noch Zeit, und die Lichter kamen immer schneller. Jedes nahm seine Zeit und verschwand, jedes eine Sekunde.

Als das Ausfahrtschild vor ihm auftauchte, fühlte er keine Erlösung, sondern eine große Sorge, die sich in seinem Bewusstsein breit machte. Er hatte Angst, zu wenig Zeit könnte übrig bleiben.

Zeit wofür denn?
Die Lichter waren alle fort, nur das gelbe Licht am Himmel war noch da: still, hell und fordernd. Es wollte Zeit haben, seine letzte Zeit. Genau die Zeit, die er noch brauchte.

Zeit wofür denn?
Er wusste nicht, wie viel Angst in seinen Gliedern steckte. Er wusste nur, dass sie da war, ihn umhüllte, ihn umschlang. Und dann, als eine neue Wolke sich vor den Mond schob, wusste er plötzlich, wohin er fahren musste.

Schon oft hatte er an die Schlucht gedacht.
Warum, war schwer zu sagen, aber der Ort faszinierte ihn. Ein steiler Abhang war dort, unten waren Bäume, Gras und ein Bach. Eigentlich war es ein wunderschöner Ort, und es war stockdunkel. Alles war schwarz und undurchdringbar. Schwarz wie das Loch, das in seinem Gehirn klaffte seit diesem seltsamen Abend im April.

Damals hatte er beschlossen, sich von dem Mädchen zu trennen, das ihn umgekrempelt hatte. Er hatte sie aufrichtig geliebt, zu sehr, wie er meinte. Und er hatte geglaubt, sie ins Unglück zu stürzen. Sie hatte geweint und nichts von dem geglaubt, was er gesagt hatte.

War es nur die übergroße Liebe, die ihn dazu getrieben hatte, ihr weh zu tun? Oder war es die Angst vor ihr gewesen? Vielleicht hatte er befürchtet, sich selbst an sie verlieren.
Sie hatte ihn beherrscht, sie hatte ihn gequält!
Warum in aller Welt hatte er sie nur geliebt?
Seit sie fort war, hatte er ein Loch im Gehirn. Ein Stück seines Selbst war verloren. Er konnte nicht ohne sie leben. Warum trennen sich Leute immer, wenn sie sich zu sehr lieben? War es wirklich Liebe, was sie zu fühlen glaubten, oder war es eher Habgier?
Der verzehrende Drang, jemanden zu besitzen?

Wieder kam der Mond hinter den Wolken hervor. Es wurde hell in dem Graben, und tief unten glitzerte das dünne Band des Bachs. Diesmal war das Licht silbrig und kalt, schwerfällig.
Er blickte zum Mond hinauf. Er war weiß und befleckt.

Die Luft war eiskalt. Er fröstelte und wünschte sich plötzlich, er wäre nie weggefahren. Doch jetzt war es zu spät. Er war müde und fror erbärmlich, doch jetzt konnte er nicht mehr fahren, nicht mit dem kalten Mond über ihm.

Da sah er unten, neben dem glitzernden Wasser, einen dunklen Fleck.
Er runzelte die Stirn und blinzelte, um bis zum Boden der Schlucht zu schauen. Alles in ihm konzentrierte sich auf diesen schwarzen Fleck in der Tiefe. Sogar das Loch in seinem Gehirn verschwand für einen Augenblick, und er konnte erkennen, was da unten lag.

Er war nicht der Erste gewesen!
Plötzlich kam er sich lächerlich vor, fühlte sich verraten und zerschlagen.
Wie hatte er nur an den Tod denken können?

Er ging zurück zu seinem Wagen, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Nach ein paar Minuten war er auf der Autobahn, und der Mond war sehr gelb. Er schaltete das Radio an, und manchmal musste er leise lachen. Denn dort unten, auf dem Boden der Schlucht, dicht am Ufer des kleinen, schmalen Bachs lag dieser Mensch, der ihm zuvorgekommen war!