teller gemueseDas Spiel

von Margarete Schebesch

 

Heute aber – heute ist ein großer Tag, sagt Mama. Heute werde ich nämlich sechs Monate alt, das ist genau so viel wie ein halbes Jahr. Ich habe also heute so etwas wie einen halben Geburtstag. Deshalb machen wir heute auch etwas ganz Besonderes, sagt Mama. Wir spielen ein neues Spiel. Na ja, für Mama und Papa ist es eigentlich kein neues Spiel, denn sie spielen es jeden Tag mehrmals, seit ich denken kann. Es scheint großen Spaß zu machen, denn sie reden dabei und lachen. Leider durfte ich bis jetzt nicht mitspielen, obwohl ich ihnen ganz aufmerksam zuschaute und ihnen sagte, dass ich auch gerne mitspielen möchte. Aber heute sei es endlich soweit, sagt Mama. Heute darf ich mitmachen.

Am Vormittag war Mama ganz lange in der Küche beschäftigt. Zuerst kochte sie für sich und Papa, dann habe sie für mich gekocht, sagt sie. Ich saß auf ihrer Hüfte und konnte sehen, was sie machte. Sie nahm schöne bunte Früchte und zerschnitt sie ganz klein. Dann warf sie alles in einen Topf mit kochendem Wasser. Als sie die Früchte wieder herausnahm, waren sie gar nicht mehr bunt, sondern blass und matschig. Dann gab sie die matschigen Früchte in das laute Gerät, das immer auf dem Fensterbrett steht. Die Maschine machte viel Lärm, und die Früchte wurden darin verwirbelt. Als die Maschine fertig war, kam ein brauner Brei heraus. Mama zeigte ihn mir ganz stolz und sagte, das würde ich also heute essen. Ich wusste nicht genau, was das heißt, aber der braune Brei sah sehr interessant aus. Ich hatte große Lust, mit meinen Fingern darin zu wühlen. Manchmal kommt aus mir auch solch ein Brei heraus, aber Mama lässt mich niemals mit den Fingern darin wühlen. Vielleicht darf ich ja heute mit diesem neuen Brei spielen, wer weiß?

Nun habe ich ganz viel Milch bei Mama getrunken. Sie tut mir so gut, Mamas Milch. Ich kann trinken, so viel ich möchte und wann immer ich will – sogar wenn Mama schläft. Und ich bin dann auch immer ganz nahe bei Mama. Sie hält mich in Ihren Armen, und mir ist dann ganz wohlig warm, und ich werde schläfrig. Oft fallen mir dann die Augen zu, wenn ich fertig bin, und später erwache ich dann zusammen mit Mama in unserem Bett. Aber heute ist es anders. Mama ist irgendwie nicht bei der Sache. Sie rutscht ganz ungeduldig hin und her, und ich kann mich gar nicht richtig aufs Trinken konzentrieren. Ich möchte so gerne die Augen schließen und einschlafen, aber Mama nimmt mir die Brust aus dem Mund, richtet mich auf und sagt, jetzt sei es Zeit für das Mittagessen.

Ich freue mich schon, denn Mama holt den braunen Brei hervor. Sie sagt, nun sei er abgekühlt und stellt ihn vor mich hin. Ich freue mich, dass Mama wie immer meine Wünsche erraten hat, und stecke sofort meine Hände in den Brei. Aber Mama hält meine Hände fest und macht sie sauber. Sie stellt den braunen Brei wieder weg, so dass ich ihn nicht erreichen kann. Dann holt sie ein anderes Spielzeug. Es ist ganz bunt, und ich hoffe, dass ich damit spielen darf. Vielleicht kann ich ja damit bis zu dem Teller mit dem Brei reichen. Aber Mama gibt es mir nicht. Sie steckt das Spielzeug selber in den braunen Brei und kommt damit ganz nahe an mein Gesicht. Sie macht den Mund weit auf. Ich mache es nach, denn sie muss ja wissen, wie das Spiel geht.

Plötzlich fühle ich etwas Fremdes in meinem Mund. Es schmeckt süß, aber ganz anders als Mamas Milch. Es muss der braune Brei sein. Ich will nichts im Mund haben, was anders schmeckt als Mamas Milch. Mama muss sich vertan haben, sie kennt das Spiel offenbar nicht richtig. Ich will es ihr sagen, aber der braune Brei in meinem Mund hindert mich daran. Deshalb schiebe ich ihn mit der Zunge wieder hinaus. Mama kommt wieder mit dem Spielzeug und nimmt den braunen Brei damit auf. Ich bin erleichtert und weiß, dass Mama jetzt gemerkt hat, dass irgend etwas falsch ist. Ich freue mich und lache – aber da ist der braune Brei wieder in meinem Mund. Mama hat es anscheinend doch nicht begriffen. Ich will ihr sagen, dass ich den braunen Brei nicht im Mund haben will. Ich will ihre Milch trinken. Ich schiebe den Brei wieder heraus, diesmal etwas heftiger, und er landet auf dem Tischtuch. Ich sage Mama, dass ich lieber ihre Milch trinken und einschlafen möchte. Aber sie macht ein trauriges Gesicht und räumt den Teller mit dem braunen Brei weg.

Heute ist ein neuer Tag. Gestern hatte ich gehofft, dass ich bei Papas und Mamas Spiel mitspielen dürfe, aber Mama hat es vergessen. Statt dessen spielte sie ein anderes Spiel mit mir, welches mir aber nicht gefiel. Es gab einen braunen Brei, mit dem ich zwar gerne gespielt hätte, aber Mama erlaubte es nicht. Nun habe ich aber wieder ganz viel Milch bei Mama getrunken, und das Missverständnis von gestern ist fast vergessen. Heute hat Mama auch nicht mehr gekocht, sondern wir haben viel zusammen gespielt und sind spazieren gegangen. Nun sind wir wieder zu Hause und ich werde gleich noch mehr Milch bei Mama trinken. Ich freue mich schon darauf. Aber Mama nimmt mich nicht in den Arm, sondern sie setzt mich in ein seltsames Ding hinein, aus dem ich nicht heraus kann. Und dann steht plötzlich der Teller mit dem braunen Brei wieder vor mir!

Vielleicht hat Mama ja vergessen, dass ich Milch trinken wollte. Oder ich habe es ihr nicht deutlich genug gesagt. Aber vielleicht darf ich ja diesmal mit dem braunen Brei spielen. Danach kann ich bestimmt noch bei Mama Milch trinken und mit ihr im großen Bett aufwachen. Der Teller steht nicht nahe genug bei mir. Mama nimmt das Tischtuch weg und bringt wieder das andere Spielzeug. Dann kommt der braune Brei wieder näher. Mama macht den Mund ganz weit auf. Ich will ihr sagen, dass ich dieses Spiel schon kenne und dass es mir nicht gefällt, dass ich lieber Milch trinken möchte. Aber schon ist der braune Brei wieder in meinem Mund. Mama hält das Spielzeug darin und ich kann den Brei nicht mehr mit der Zuge hinausschieben. Ich schiebe ihn mit der Zunge im Mund hin und her und dann ist er irgendwie weg. Ich muss fürchterlich würgen, das ist ganz unangenehm, und ich fühle dass irgendetwas falsch ist. Aber Mama freut sich und steckt das Spielzeug wieder in den Brei.

Mama schafft es, den Brei noch einige Male in meinem Mund verschwinden zu lassen. Dann habe ich keine Geduld mehr und sage ihr ganz deutlich, dass ich jetzt Milch trinken möchte. Glücklicherweise versteht sie mich, und ich kann bei ihr Milch trinken. Sie freut sich und sagt, dass wir heute einen großen Schritt weiter gekommen seien. Ich verstehe das nicht ganz, denn sie scheint immer noch nicht erkannt zu haben, wie man das Spiel mit dem braunen Brei spielt.

Heute ist ein neuer Tag. Ich fühle mich ganz seltsam. In meinem Bauch rumort es und manchmal habe ich auch drückende Schmerzen. Ich sage Mama, dass es mir weh tut, und sie lässt mich Milch trinken. Auch wenn der andere Brei aus mir herauskommt, fühlt es sich komisch an. Es tut weh, wenn er herauskommt und Mama ist ganz verwundert und sagt, dass er schlecht riecht. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich trinke ganz viel Milch bei Mama, und langsam fühlt sich mein Bauch wieder wie sonst an.

Irgendwann setzt mich Mama wieder in dieses seltsame Ding, aus dem ich nicht heraus kann. Der braune Brei ist wieder da und Mama will wieder spielen. Aber heute möchte ich nicht mehr spielen. Dieses Spiel gefällt mir nicht. Ich sage es Mama, aber sie steckt das Spielzeug in den Brei und kommt damit immer näher. Ich mache den Mund ganz fest zu und versuche, sie dabei nicht anzuschauen. Ich schaue weg, damit ich den Mund nicht aufmachen muss, wenn ich ihr zusehe. Mama verhält sich ganz seltsam. Ich höre bekannte Wörter wie Oma und Opa, aber ich sehe Oma und Opa nicht. Dann fuchtelt Mama mit dem Spielzeug voller Brei vor meinem Gesicht herum, kommt mal näher und dann weiter weg. Aber ich mache den Mund nicht auf. Mama wird zornig und versucht, meinen Mund mit ihren Händen zu öffnen. Ich sage ihr, dass ich das nicht will und dass ich jetzt bei ihr Milch trinken möchte. Als ich den braunen Brei in meinem Mund spüre, drücke ich ihn ganz schnell wieder heraus, und er läuft auf meinem Kinn hinunter, auf Mamas Hand, die das Spielzeug noch dort hält.

Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich glaube, Mama versteht nicht mehr, was ich ihr sage. Vielleicht hat sie mich nicht mehr lieb. Vielleicht hat sie mich nur lieb, wenn ich dieses Spiel mit ihr spiele. Warum kann ich nicht einfach ihre Milch trinken und mit ihr zusammen in unserem Bett aufwachen? Ich will jetzt nicht mehr spielen. Ich habe keine Lust mehr. Ich habe Hunger, ich will jetzt Mamas Milch trinken. Ich mache den Mund auf und lasse Mama den braunen Brei hineinschütten. Inzwischen habe ich heraus, wie ich ihn verschwinden lassen kann. Ich lasse schnell einiges von dem Brei verschwinden und schaue Mama ganz lieb an. Sie freut sich, und dann darf ich wieder ihre Milch trinken.

Heute ist ein neuer Tag. Es sind einige Tage vergangen seit Mama begonnen hat, jeden Tag mit dem braunen Brei zu spielen. Das Spiel scheint ihr Spaß zu machen, denn sie will nicht damit aufhören, obwohl ich ihr gesagt habe, dass ich es nicht mehr spielen möchte. Wenn ich nicht mitspiele, darf ich keine Milch bei ihr trinken. Dann fühlt sich mein Bauch ganz leer an, und ich fühle mich ganz einsam, denn ich glaube, Mama hat mich dann nicht lieb. Deshalb spiele ich mit, weil ich dann wieder Mamas Milch trinken kann. Aber gestern durfte ich nach dem Spiel mit dem braunen Brei nicht bei Mama Milch trinken. Sie nahm mich in den Arm und freute sich, dass der ganze Teller voller braunem Brei in meinem Mund verschwunden war. Ich wurde ganz müde und schlief ein. Als ich wach wurde, fühlte sich mein Bauch noch viel schlimmer an als bisher. Es tat weh, und ich fühlte, dass ganz viel von dem anderen Brei aus mir herauskam. Es fühlte sich alles ganz nass an, und meine Haut juckte fürchterlich. Ich konnte aber nicht kratzen, denn dort wo es juckte, war alles bedeckt. Ich sagte Mama, dass es mir weh tut, und sie kam und nahm den anderen Brei weg, und ich konnte ihre Milch trinken.

Heute ist ein neuer Tag. Mein Bauch tut immer noch weh. Ich habe ganz viel von Mamas Milch getrunken, aber es hat nicht geholfen. Ich fühle mich ganz schwach und möchte nur bei Mama im Arm liegen. Sie ist ganz aufgeregt und wiegt mich hin und her, während ich ihre Milch trinke. Dann fahren wir zu einer fremden Frau, die auf meinem Bauch herumdrückt. Das fühlt sich gut an. Mama spricht mit der Frau, und dann weint sie. Aber die Frau spricht ruhig mit ihr und lächelt mich an. Als wir wieder zu Hause sind, kann ich wieder Mamas Milch trinken. Ich bin ganz überrascht, weil ja sie ja eigentlich wieder mit mir spielen sollte. Ob sie das Spiel heute vergessen hat? Ich merke, dass ich mich besser fühle, und dann erwache ich wieder mit Mama in unserem Bett.

Heute ist ein neuer Tag. Ich sitze wieder in diesem Ding, aus dem ich nicht heraus kann. Vor mir steht der Teller mit dem braunen Brei. Ich sage Mama, dass ich nicht mehr mit dem Brei spielen möchte. Mama sagt nichts, aber sie stellt den Teller so hin, dass ich ihn mit meinen Händen erreichen kann. Ich glaube, sie möchte, dass ich mit dem braunen Brei spiele. Ich nehme ein wenig davon in meine Hände. Er fühlt sich gut an, ganz weich. Ich kann ihn mit den Händen verrühren und ihn aus den Händen tropfen lassen. Ich kann damit auch das Ding, wo ich drin sitze, verzieren. Es macht Spaß. Irgendwann ist der Teller leer, und Mama schaut mich an. Sie lächelt, aber in ihren Augen sehe ich etwas glitzern. Sie nimmt mich aus dem Ding heraus, und ich kann ihre Milch trinken. Sie hält mich im Arm und drückt mich ganz fest an sich. Ich trinke ganz viel Milch, und später wache ich mit ihr in unserem Bett auf.

Heute ist ein neuer Tag. Ich fühle mich großartig. Ich habe fast die ganze Nacht Mamas Milch getrunken, und wenn der andere Brei aus mir herauskommt, fühlt es sich an wie damals, bevor wir anfingen, mit dem braunen Brei zu spielen. Mama ist ganz lieb zu mir. Sie richtet ein wenig in der Küche, und dann trinke ich ihre Milch, während sie jenes Spiel spielt, welches sie immer mit Papa zusammen spielt. Aber heute ist es anders. Heute darf ich mitspielen. Ich kann die Hände in ihren Teller tun und alles anfassen. Es sind ganz unterschiedliche Sachen. Wenn ich daran lecke, kann ich feststellen, wie sie sich im Mund anfühlen. Endlich hat Mama verstanden. Mama streichelt mich und sagt, dass wir es hinter uns haben. Ich verstehe nicht ganz, was sie damit meint. Aber ich freue mich, dass ich endlich mit Mama und Papa mitspielen darf.

Heute ist ein neuer Tag. Es sind einige Tage vergangen seit wir bei dieser fremden Frau waren, die auf meinen Bauch drückte. Ich trinke jeden Tag Mamas Milch, und der braune Brei ist nicht wieder aufgetaucht. Dafür spiele ich jeden Tag das Spiel mit Papa und Mama. Manchmal verschwinden einige Dinge, mit denen ich spiele, von dem Teller. Und manchmal muss ich auch ein wenig würgen, aber es ist nicht so schlimm wie damals mit dem braunen Brei. Mama freut sich, und ich kann ganz viel Milch bei ihr trinken. Ich bin so froh, dass Mama mich verstanden hat. Auch dieses Ding, aus dem ich nicht heraus kann, ist weg. Ich sitze jetzt immer bei Mama oder Papa im Arm, und wir reden, lachen und spielen zusammen, jeden Tag.

(30.09.2006)