junge sterneHarrys Gebet

von Margarete Schebesch


Was ist es nur, das uns dazu bringt, den Blick zu den Sternen zu heben und angesichts der Schönheit zu erschauern, die mit ihrem sanften Licht auf uns hernieder fließt? Es war dieses wohlbekannte, aber dennoch unbeschreibliche Gefühl, das sich in Harrys jungem Bewusstsein einnistete, als er zum ersten Mal die Sterne am dunklen Himmel betrachtete. Es ließ ihn nicht mehr los, und die Sehnsucht nach den Lichtern in der Ferne erfüllte seine Gedanken.

Er war erst fünf Jahre alt, aber er wusste genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass die glitzernden Lichter da oben keine Kerzen waren. Es waren auch keine Glühlampen oder irgendwas von dieser Art. Die Lichter waren Sonnen – genau solche wie die Sonne des Tages. Sie waren nur alle sehr weit weg.

Harry wusste das alles von Papa und hatte sich oft genug davon überzeugen können, dass alles stimmte, was sein Papa ihm erzählte. Wenn er mit Mama in die Stadt fuhr und auf der Rückbank im Auto saß, dann wurden die anderen Autos, die vorbeifuhren und sich entfernten, immer kleiner. Ja, es war richtig, er glaubte es.

Dieser Glaube war es auch, der Harry veranlasste, am Abend manchmal durch das niedrige Fenster seines Zimmers zu steigen und in den Garten zu laufen. Hier wurden zwar Teile des Himmels von Bäumen verdeckt, dafür gab es kein Licht, das die Dunkelheit stören konnte.

Im Unterschied zu anderen Kindern hatte Harry nämlich keine Angst vor der Dunkelheit. Nur die völlige Stille nachts in seinem Zimmer fürchtete er, und deshalb musste das Fenster jede Nacht offen bleiben, damit das Rauschen der Bäume im Garten zu hören war. Erst dann konnte Harry einschlafen.

Mama und Papa wussten nichts von Harrys nächtlichen Ausflügen. Nur manchmal, wenn Harry tagsüber müde und nachdenklich war, wunderten sie sich ein wenig. Harry bewahrte sein Geheimnis gut, denn er ahnte, dass es ihn seine Freiheit kosten könnte, wenn sie entdeckten, was er an warmen Sommerabenden unternahm. Das Fenster würde geschlossen werden, und er könnte nicht mehr in den Garten hinaus.

Als Harry in dieser Nacht ganz leise aus dem Fenster stieg, war er sicher, dass alles in Ordnung war. Kein Laut war im Haus zu hören, und die Nacht war klar und finster, als er auf das Gras trat. Vorsichtig ging er weiter, in den dunklen Garten hinein.

Im Garten roch es nach frisch gemähtem Gras, und das leise Rascheln in den Blättern der Pflaumenbäume empfing Harry wie ein alter, liebevoller Freund. Ab und zu fiel eine von den reifen Pflaumen zu Boden, und Harry lächelte bei dem leisen Knall, der bei ihrem Aufprall erklang.

In der Mitte des Gartens standen die Bäume weiter auseinander, und ein großer Teil des Himmels war zu sehen. Voller Freude legte Harry sich ins Gras und ließ den Himmel sein Blickfeld erfüllen.

Mit ruhigen Atemzügen lauschte er dem leisen Krabbeln im Gras neben seinen Ohren und tauchte ein in die Geräusche der Nacht. Warm und bebend leuchteten die Sterne, und Harry begrüßte sie mit ihren Namen in seinen Gedanken. Im hellen Band der Milchstraße lagen der Schwan und Kassiopeia, und genau über seinem Gesicht hing das große Viereck des Pegasus.

Harry hatte sich die Namen gemerkt, als Papa sie ihm erklärt hatte, denn sie brachten Ordnung in das glitzernde Gewirr aus Lichtern. Längst hatte er herausgefunden, dass die Sterne sich bewegten, aber er wusste auch, dass sie jeden Abend zurückkehrten – wenn der Zeitpunkt ihrer Rückkehr sich auch verschob.

An diesem Abend war es jedoch anders als sonst.

War Harry vielleicht zu schläfrig, oder war es das Rauschen der Blätter, das wie beruhigende Musik auf seine Seele wirkte? War es das leise Flimmern der Sterne, das seine Augen ermatten ließ, oder die Wärme der sommerlichen Nacht, die ihn umfing? Wie eine weiche Decke legte sie sich auf seinen Körper, und mit den Sternen in den Augen fiel Harry langsam in den Himmel hinein.

In seinen Traum traten große, helle Sterne, die den Himmel überzogen. Wie eine glitzernde Armee aus Lichtern wanderten sie vorbei, brummten und surrten an seinen Ohren und schickten kleine, stechende Schmerzen in seine Glieder. Dann kam ein heftiger Wind, der ihn schüttelte und an seinen Kleidern zerrte, bis er seinen Körper in die Luft hob und ihn forttrug an einen Ort, wo nur Stille war.

Als Harry erwachte, lag er in seinem Bett, und sein Gesicht fühlte sich heiß und geschwollen an. Sein Mund war trocken, und überall an seinem Körper brannte seine Haut. Mama saß an seinem Bett und gab ein klebriges Öl auf sein Gesicht, und das Brennen ließ ein wenig nach. Das Öl roch sehr stark nach Minze, und der Luftzug vom Fenster, das auf wunderbare Weise offen stand, strich kühlend über Harrys Gesicht.

Er musste alles erzählen.

Papa glaubte ihm, aber Mama schimpfte und wiederholte immer wieder, welch großen Schrecken Harry ihr eingejagt habe. Am Ende nahm sie ihn in ihre Arme und forderte das Versprechen von ihm, nie wieder nachts allein hinauszugehen.

Harry liebte Papa und Mama, aber er liebte die Sterne noch mehr. Deshalb öffnete er am nächsten Abend mühevoll das Fenster, das nun geschlossen war, und setzte sich auf den Rand, um hinauszuklettern. Doch Papas starke Arme legten sich auf seine Schultern und brachten ihn zurück in sein Bett.

Harry sah sein strenges, entschlossenes Gesicht, und Tränen traten in seine Augen, als er erkannte, dass dieser Weg ihm nun verschlossen war. Papa ging zurück ins Schlafzimmer, und Harry versuchte in dieser Nacht nicht wieder, in den Garten zu gelangen. Auch in den folgenden Nächten blieb er in seinem Bett, denn er wusste, dass Papa bis spät in die Nacht hinein wach lag und lauschte. Harry würde nicht weit kommen.

Es war ein langes Warten durch die Nächte hindurch.

Langsam verging der Herbst, und im kalten Wind, der um die Häuser seufzte, verloren die Pflaumenbäume ihre Blätter. Harry kam in die Schule, aber er war ein stilles Kind mit sehnsüchtigem Blick, dessen Scharfsinn sich in dem Geschick offenbarte, sich aus den Streitereien seiner Kameraden herauszuhalten. Den anderen Kindern schien dies nicht aufzufallen, aber die Lehrer, die bei solchen Gelegenheiten oft herbeieilten, bemerkten es und wunderten sich.

Auch der Winter kam mit Frost und sehr viel Schnee, und Harrys Fenster blieb in den Nächten weiterhin geschlossen. Oft stand er abends mit plattgedrückter Nase im Dunkeln am Fenster und starrte mit zusammengepressten Lippen nach draußen. Er weinte nicht und empfand auch keine Feindseligkeit für Mama und Papa, denn er wusste, dass sie es nur gut mit ihm meinten. Irgendwann hatte er sich einfach an die Stille gewöhnt.

Als die Weihnachtszeit nahte, konnte Harry sich sogar wieder freuen. Unter dem Weihnachtsbaum fand er diesmal ein Buch in edlem Einband, mit vielen, schönen Bildern und großer Schrift, wie in seinem Lesebuch. Kinderbibel stand auf der vorderen Seite in erhabenen, goldenen Buchstaben.

Da er nun lesen konnte, begann Harry, abends in seinem stillen Zimmer zu lesen. Die Geschichten waren so spannend, dass er das Buch sogar mit in die Schule nahm, um in den Pausen zu lesen. Bald hatte er das Buch durchgelesen und begann, über die Geschichten nachzudenken. Ab und zu dachte er auch wieder an die Sterne und sah sie noch manchmal in seinen Träumen. Mama und Papa schienen sich freuen, dass er das Buch so begeistert gelesen hatte, aber das Fenster blieb weiterhin geschlossen.

Der Frühling brachte eine Explosion aus Licht und Farben, und Harrys stilles Gemüt lebte auf. Er konnte jetzt richtig gut lesen und las auch andere Bücher, die Papa und Mama ihm schenkten. Aber in all diesen Büchern, die er bekam, war immer irgendwo etwas von Gott zu lesen.

Nach und nach erkannte Harry, dass Gott ein Wesen sein musste, das durch seine große Macht alles tun konnte, wenn man es nur richtig darum bat. In den Büchern war dieses Wesen oft als ein alter Mann mit langem Bart dargestellt, aber Harry glaubte nicht an dieses Bild. Gott war überall, aber gleichzeitig war er unsichtbar und offenbarte sich nur in seinem Werk. Wie konnte man dann wissen, wie er aussah?

An diesem Abend wehte der Wind zärtlich und leise durch die jungen Blätter der Bäume. Der Duft von Pfingstrosen und Jasmin lag in der Luft, und ein letzter Hauch des Abendrots schimmerte über dem Horizont.

Harry stand im Garten – ein kleiner, heimlicher Schatten im schützenden Dunkel zwischen den Bäumen. Er dachte an Gott, und es war sehr natürlich, zu glauben, dass dieses mächtige Wesen auch eine Verbindung zu den Sternen haben musste, wo es doch alles gemacht hatte. Es war also ganz einfach, und es würde sehr leicht gehen.

In der warmen Nacht erhob Harry seine Augen zu den Sternen und sprach ein leises Gebet. Als er fertig war, lächelte er zufrieden, dann drehte er sich um und ging zurück ins Haus. Und in dieser Nacht blieb niemand wach, um zu sehen, wie die Sterne langsam verschwanden und der Himmel schwarz wurde – und finster und leer.